Energiewende 2.0: Revolution in der Energiebranche

Hochspannungsleitungen, die Strom über große Strecken transportieren, sind von gestern. Technologien, die dezentral erzeugten klimafreundlichen Strom intelligent vernetzen, stehen in den Startlöchern.

Die energetische Zukunft findet ausgerechnet auf einem alten Industriegelände statt. 150 Jahre lang wurden im Kaiserslauterner Pfaff-Quartier Nähmaschinen hergestellt. Jetzt hat die Stadt dort ein „Reallabor“ für Wohnen und Arbeiten eingerichtet – mit allem, was in puncto Energieversorgung neu, effizient, umwelt- und klimafreundlich ist. Mit Fassaden, die schick aussehen, aber vor allem Solarstrom erzeugen sollen. Mit Speichern und Smart-Grids, die den Strom intelligent verteilen.

Durch den Einsatz von Blockchain-Technologien (ein kryptografisches Buchführungssystem) werden die Möglichkeiten des Energiehandels zwischen Gebäuden sowie Erzeugern und Verbrauchern untersucht: das fünfjährige „EnStadt:Pfaff“-Projekt. Ziel sei „einen möglichst hohen Anteil an selbst erzeugter erneuerbarer Energie zu erreichen“.

Es wächst zusammen, was zusammen gehört

Durch die Kombination von der Solaranlage auf dem Dach mit dem Speicher im Keller wird die Nutzung der selbst hergestellten Energie deutlich effizienter. Die Dezentralisierung der Versorgung mit Erneuerbaren nebst Speichern und unter Zuhilfenahme von Informationstechnik kann nicht nur die Strompreise kräftig senken, sondern die gesamte Energiebranche auf den Kopf stellen: die Energiewende 2.0. Der noch junge Bundesverband Energiespeicher (BVES) will in diesem Jahr einen Meilenstein erreichen: erstmals die Fünf-Milliarden-Euro-Marke an Umsätzen knacken.

Die Einsparpotenziale beim Umsetzen der dezentralen Energiekonzepte für das Jahr 2020 liegen allein für Unternehmen bei mehr als 13 Milliarden Euro jährlich, so Rudolf Seiter, Energieexperte beim Beratungsunternehmen EY. Die Speicherung in Batterien ist derzeit noch teuer. „Die Kosten für die Inselversorgung liegen derzeit in der Größenordnung von 50 Cent pro Kilowattstunde und damit noch deutlich über dem Endkundenbezugspreis von 30 Cent pro Kilowattstunde“, sagt Professor Christof Wittwer vom Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme (ISE). Doch er erwartet erhebliche Preissenkungen.

Game Changer

Tobias Federico vom renommierten Beratungshaus Energy Brainpool bezeichnet Batteriespeicher als „Game Changer“ im Strommarkt. Wohin deren Anschaffungskosten stürzen können, weiß niemand genau. Federico erinnert aber an den Preissturz für Solarmodule in den letzten Jahren. Orientiert man sich daran, wären in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre Verbilligungen um 90 Prozent im Vergleich zu heute machbar: 50 Cent minus 90 Prozent macht fünf Cent.

Beim Selbermachen und Selberspeichern von Strom wird derzeit in Deutschland die EEG-Umlage erhoben – und zwar zu 40 Prozent, was rund 2,7 Cent pro Kilowattstunde entspricht. Professor Christof Wittwer fordert die Freistellung der Eigennutzer von dieser Abgabe: „Das würde augenblicklich einen Investitionsschub auslösen, was wiederum die Preise für Komponenten dieser Systeme sehr schnell reduzieren würde.“

„Als zusätzlicher Baustein können Mikronetze hinzukommen, da sie den unmittelbaren Stromaustausch in einem Gewerbegebiet oder einem Wohnquartier ermöglichen“, sagt Wittwer. Mikronetze sind lokale und weitgehend autonome Stromnetze, die einen größeren Gebäudekomplex, ein Wohnquartier oder ein Gewerbegebiet versorgen. Im New Yorker Stadtteil Brooklyn läuft seit Frühjahr 2016 ein viel beachtetes Mikronetz (Microgrid) Projekt, ausgestattet mit deutscher Technik von Siemens.

Mehrere große Technologiekonzerne setzen inzwischen auf Microgrids als neuem Geschäftsmodell. Siemens etwa sieht in den Mikronetzen „die Zukunft des Energiemanagements“. Beim Projekt in Brooklyn beliefern private Erzeuger mit Solarmodulen auf dem Dach ihre Nachbarn. Der Vorteil des Prinzips Nähe: Es ist effizient und preiswert. Eine neue Form des Verkaufens und Kaufens von Strom entsteht, das keine Zwischenhändler (Versorgungsunternehmen) mehr braucht. Preise unter zehn Cent pro Kilowattstunde halten Experten für denkbar.

Auch das Abrechnungsverfahren für Microgrid-Inseln wird in Brooklyn erprobt: die Blockchain-Technologie. Dabei geht es um Transaktionen per Computer, wo Menge, Qualität (Grünstrom oder nicht) und Preis in Datenblöcken festgehalten werden, die zwecks Überprüfbarkeit miteinander verknüpft werden. Damit lassen sich auch Smart-Contracts ausführen, also intelligente Verträge, die den Energiehandel automatisch abwickeln. Zusammen mit einer passenden Software, die Stromerzeugung und -bedarf intelligent vorhersieht, sind vollautomatisierte Versorgungssysteme denkbar.

Doch das ist bislang alles nur graue Theorie. Derzeit ist die direkte Stromlieferung vom Erzeuger zum benachbarten Verbraucher nicht zulässig, es muss immer über das örtliche Verteilnetz gehen. Dabei werden immer Netzgebühren fällig. „Hier müssten neue gesetzliche Regelungen geschaffen werden, um die Netzentgelte und Umlagen in der direkten Umgebung zu reduzieren“, fordert Wittwer. Als weitere Komponente müssten Musterverträge für die wechselseitige Strombelieferung entwickelt werden, um Rechtssicherheit zu schaffen.

Die Forschung läuft auf Hochtouren, der Energiemarkt wird sich verändern. Dagegen kommen die monopolistischen Bündnisse wie zwischen RWE und Eon auf Dauer nicht an. Die zuständigen Politiker sollten Kaiserslautern und Brooklyn genau beobachten und rechtzeitig Schritte einleiten, um den Strom in Zukunft umweltfreundlich und kostengünstig zum Verbraucher bringen zu können.

© Bundesministerium für Bildung und Forschung.

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Das Potenzial an Kleinerzeugern und -verbrauchern ist riesig.